Teufel auch!

Pünktlich um 6.45 Uhr rollte ich in Devonport von der Fähre. Wahrlich keine Uhrzeit, um jemanden zu besuchen, dachte ich. Zumal ich Ralph doch kaum kannte. Aber er hatte darauf beharrt, dass es ihm nichts ausmachte – und einen Kaffee konnte ich nach der Nacht auf dem unbequemen Liegesitz gut gebrauchen. Abgesehen von einer leichten Verspannung hatte ich unter der viel zu kleinen, dünnen Decke aber ganz passabel geschlafen. Offenbar war ich da wohl die Ausnahme, denn mein blasser Sitznachbar berichtete, dass es in der Nacht schweren Seegang gegeben hatte. Der obligatorische Besuch auf der Herrentoilette bestätigte seinen Bericht. Dort hing ein bedauernswerter Bursche mit dem Kopf im Waschbecken und fragte mich mit schwacher Stimme, wie weit es noch bis in den Hafen sei.

Ralph hatte ich an einer Bushaltestelle in den Blue Mountains kennengelernt. Wie so oft hatten wir gleich Telefonnummern ausgetauscht und ich musste versprechen, dass ich bei ihm vorbeischaue, wenn ich in Tasmanien ankomme. Sicher war da auch wieder die schon oft thematisierte australische Zugänglichkeit im Spiel. Es ist aber einfach auch die Art von Reisenden, anderen das anzubieten, was sie selbst unterwegs schätzen. Das können so banale Dinge sein wie ein bequemer Schlafplatz, eine Waschmaschine, eine Dusche oder eben ein Frühstück. 

Und dass Ralph schon etwas rumgekommen war, davon zeugte nicht nur die große Weltkarte in seinem Badezimmer, die er ganz altmodisch mit Stecknadeln gespickt und diese mit Fäden verbunden hatte. Auf allen Reisen hatte er zudem Tagebuch geführt. Manche der alten Kladden waren bereits vergilbt und fielen fast auseinander. Kein Wunder, denn sie waren zum Teil über fünfzig Jahre alt. Ralph hatte die Achtzig bereits überschritten.

Seine kleine Einzimmerwohnung war buchstäblich bis unters Dach mit Andenken und Antiquitäten gefüllt. Besonders viel Raum nahmen die zahlreichen Wand- und Stehuhren ein. Ralph hatte sie alle so eingestellt, dass sie mit etwas Zeitversatz die Stunde schlugen. So konnte er jeden Klang einzeln genießen.

Während wir seinen frisch zubereiteten Porridge löffelten, erzählte Ralph von seinen Erlebnissen und woher er die vielen Souvenirs hatte. In seinen jungen Jahren sei er meistens per Anhalter gereist, einmal sogar von Kapstadt bis nach Kairo. Überraschenderweise kannte er dennoch den Hitchhiker’s Guide to the Galaxy nicht. Unglaublich!

Von Devonport bis zu meinem ersten Etappenziel in Low Head am Tamar River war es nicht sehr weit. Tasmanien ist nur ungefähr so groß wie Bayern, hat aber weniger Einwohner als Essen. Dennoch brauchte ich mitunter länger als gedacht, um die Strecken zu bewältigen. Zum einen lag das an den vielen Fotostopps, die ich unterwegs einlegen musste. Außerdem luden die zahlreichen, gut ausgebauten Schotterpisten immer wieder zum Verlassen der Hauptroute ein.

In Low Head wollte ich an einer Pinguintour teilnehmen, was trotz meines notorisch schlechten Timings dieses Mal auch funktionierte. Die putzigen Vögel kamen so pünktlich aus dem Wasser und liefen den Strand rauf, als hätten sie einen Deal mit dem Tourenveranstalter gemacht. Einen Pinguin schickt die Gruppe dabei immer vor, um zu schauen, ob die Luft rein ist. Uns hat der Späher scheinbar nicht als Bedrohung angesehen – oder der Tourguide hatte ihn geschmiert. Jedenfalls watschelten innerhalb einer Viertelstunde gut zwei Dutzend Pinguine über den Sand in das höhere Gras, um dort … ihre Pinguinsachen zu machen.

Fotos? Schwierig. Die Frackträger lassen sich erst blicken, wenn die Sonne untergegangen ist. Also ist man darauf angewiesen, dass einer der beiden Tourguides zufällig mit seinem schwachen Gelblicht in die richtige Richtung funzelt.

Überhaupt war schon jetzt klar, dass es eine Herausforderung sein würde, Tasmanien in diesem Bericht fotografisch gerecht zu werden. Die Insel ist nicht spektakulär, aber sie ist spektakulär schön. Hier ist die Natur der Star, und das Sehenswerte ist überall. Es gibt sagenhafte Küstenlinien, schroffe Felsen, riesige Seen, dichte Wälder und sogar große Sanddünen. Das Wetter ist rauer als auf dem Festland und sehr wechselhaft. Mich erinnerte Tasmanien an Schottland, andere sagten, es sei wie Neuseeland in Klein. Aber der Reihe nach.

Da ich beschlossen hatte, im Uhrzeigersinn um die Insel zu reisen, fuhr ich vom Tamar River über Gladstone weiter an die Ostküste. Am sehenswerten alten Leuchtturm in Eddystone traf ich den ehemaligen Kapitän Detlef und seine irische Frau Moira. Obwohl er schon seit Jahrzehnten in Australien lebte, war sein Hamburger Zungenschlag sofort erkennbar. Wir unterhielten uns eine Weile, bevor ich meinen Weg entlang der Bay of Fires fortsetzte.

Namensgebend für die Bucht waren nicht etwa die feierroten Färbungen der Felsen, die man auf vielen (anderen) Fotos sieht, sondern die kontrollierten Feuer der Aborigines, die die englischen Entdecker Australiens von der Bucht aus sahen. Rote Felsen sind nicht das Einzige, was die Ostküste zu bieten hat, aber sie dominieren das Erscheinungsbild der zum Teil winzigen, abgelegenen Strände und pittoresken Buchten.

Hobart ist die größte Stadt Tasmaniens und vor allem bekannt für das Museum of Old and New Art (MONA). Es ist im Besitz eines einzigen Mannes, der sein Vermögen mit Glücksspiel gemacht hat, und liegt auf einer kleinen Landzunge im River Derwent. Entsprechend gibt es zwei Möglichkeiten, um dorthin zu gelangen: stilecht mit einer der beiden in Camouflage lackierten Fähren oder schnöde über den Highway.

Alles am MONA ist irgendwie kokett oder provokant. Das beginnt beim Buchungsprozess, reicht über die Fährfahrt und die Museumsarchitektur und hört in den Ausstellungen erst recht nicht auf. Das Museum zwingt den Besucher zum Mitdenken, führt ihn in die Irre und manchmal auch vor. Auf der Fähre kann man beispielsweise auf einem von vier Schafen Platz nehmen, um die Aussicht zu genießen, und stellt dabei fest, dass man nur selbst eines ist. Großartig!

Im Museum selbst findet man großformatige internationale Werke, die manchmal mit der Architektur verschmelzen, viel Raum zum Interpretieren und Genießen, aber nur schwer den richtigen Weg.

Da ich mir außerdem Bruny Island und Port Arthur ansehen wollte, blieb ich vier Nächte in Hobart. Dieses Mal bei Stefan, der schon zwölf Jahre auf der Insel lebte und ursprünglich aus dem Ländle stammt. Als gelernter Schreiner hat er alles in seinem alten Haus selbst ausgebaut und eine gemütliche Atmosphäre geschaffen, die dem Namen Villa Kunterbunt gerecht wird. Gerade war er dabei, sich hinter dem Haus in das steil ansteigende Gelände zu graben. Wohlgemerkt: mit Hacke und Schaufel. Wie er denn die schweren Felsen bewege, wollte ich wissen. „Ägyptisch“, war die Antwort. So um die 30 Tonnen Aushub könne man schon pro Tag über das Dach des Hauses entsorgen. Respekt! Ein schwäbischer Pyramidenbauer, der außerdem in Glaziologie promoviert hatte und mit viel Großzügigkeit ein Airbnb betrieb. Stefan teilte nicht nur sein Bad, seine Küche und die selbst erzeugten Lebensmittel mit mir, sondern auch den Familiennamen.

Nach Port Arthur kamen Gefangene, mit denen man – zumindest aus heutiger Sicht – oft wegen Bagatelldelikten kurzen Prozess gemacht hatte. Und das erlaube ich mir hier jetzt auch: Port Arthur ist erschreckend schön. Das riesige Areal – es gibt nur Zweitagetickets – erzeugt mit seinen gepflegten Grünanlagen sowie hergerichteten Gebäuden und Ruinen in einer traumhaften Bucht eher den Eindruck eines verlassenen Ferienortes.

Harter Knastalltag wird höchsten in dem Einzelhaftkomplex spürbar. Und das, obwohl sich die Kuratoren alle Mühe gegeben haben, den Besucher mit auf die Zeitreise zu nehmen. Es mangelt nicht an Informationen über brutale Prozeduren und einzelne Schicksale der Insassen, die oft noch im Kindesalter waren. Nur: Sobald ich ins Freie trat und den Blick über das Gelände und die Bucht schweifen ließ, war alles wieder weg. Gegen die Schönheit der Umgebung kam die sachliche Information nicht an.

Mit einer Ausnahme: Am Rand der Anlage gibt es eine Gedenkstätte für die Opfer eines Amokläufers, der 1996 an dieser Stelle 35 Menschen getötet hat. Ein Ereignis, das ich schon fast wieder vergessen hatte.

Auf Bruny Island kann man hingegen ganz unbeschwert die Zeit ausblenden und einfach mal die Seele baumeln lassen. Abgesehen von dem lohnenden Aufstieg zum Aussichtspunkt über dem „Nacken“, dem schmalen Verbindungsstück von Nord- und Süd-Bruny, standen keine weiteren Highlights auf der Tagesordnung. Okay, die weißen Wallabys wollte ich mir eigentlich schon ansehen, habe aber in bester Erinnerung an Walter und den Dude den Tag verdaddelt.

Das war auch gut so, denn am nächsten Tag stand eine recht lange Etappe an. Und da ich nur eine Nacht in Strathgordon gebucht hatte, wollte ich möglichst früh dort ankommen, um noch etwas von der Umgebung und vor allem dem Staudamm zu sehen. Die Hydro Electric Corporation hat das 140 Meter hohe Bauwerk in den 70er-Jahren zur Stromerzeugung aus dem Boden gestampft und so eine ehemals idyllische Gegend in einen riesigen Stausee verwandelt. Zumindest sagte das Ian, der zweifellos alt genug war, um sich zu erinnern, und in unserem Gespräch von einem kleinen Punkt auf dem Foto zu einem großen Motorradkenner mutierte. Apropos: In der einzigen Unterkunft, die es in Strathgordon gab, traf ich die beiden Biker Andy und Dave wieder, die mir schon auf dem Weg begegnet waren. Es sollte nicht unser letztes Wiedersehen sein.

Queenstown hatte ich zu meiner Basisstation für zwei Tage im Westen Tasmaniens auserkoren. Auf dem Weg dorthin besuchte ich The Wall. Mit Pink Floyd hat das nichts zu tun, dafür aber mit sagenhafter Bildhauerkunst. Was Greg Duncan aus den riesigen Huon-Pine-Paneelen herausgearbeitet und zu einem 100 Meter langen Mamutkunstwerk zusammengesetzt hat, ist sehr beeindruckend. Seine Objekte sehen so natürlich aus, dass man sie berühren und überprüfen möchte, ob sie wirklich aus Holz sind. Darf man aber nicht. Und dass man seine Werke fotografiert, möchte der Künstler ebenfalls nicht. Was man aber sehr wohl darf, ist vor dem Kamin Platz nehmen und in aller Ruhe das Unwetter abwarten, das plötzlich über uns hereinbrach. So konnte ich das Bargespräch vom Vorabend mit Dave und Andy fortsetzen, die ich hier schon wieder traf.

Als unbedingtes Muss im Westen Tasmaniens war mir immer wieder die Bootstour ab Strahan ans Herz gelegt worden, die einen über Macquarie Harbour und die Gefängnisinsel Sarah Island auf den Gordon River führt. Der Fluss schlängelt sich durch die Tasmanian Wilderness World Heritage Area – einer von nur zwei Regionen weltweit, die die Bezeichnung Wildnis in ihrem UNESCO-Namen tragen dürfen. Ein wunderschöner Ort!

Zischen Queenstown, Strahan und dem Cradle Mountain verkehrt außerdem eine liebevoll restaurierte historische Dampfeisenbahn, die West Coast Wilderness Railway. Statt das teure Ticket für eine 20-minütige Fahrt zu kaufen, habe ich lieber mindestens ebenso lange mit dem Lokführer – nennen wir ihn mal Lukas – gequatscht. Er erzählte so begeistert und detailreich von seinem Job, wie es nur jemand kann, für den ein Kindheitstraum in Erfüllung gegangen ist. Leider vergaß er darüber, dass gerade der Wassertank befüllt wurde.

Im Café des Bahnhofs traf ich dann erneut auf Dave und Andy. Die beiden sympathischen Jungs wohnen zwar 2.000 Kilometer voneinander entfernt – der eine in Cairns, der andere an der Gold Coast –, machten aber öfter Motorradtouren zusammen. Nach einem langen Plausch haben wir noch eine gemeinsame Spritztour zu einem Aussichtspunkt und ein paar Fotos gemacht.

Auf dem Weg zurück nach Devonport stand noch ein Abstecher nach Stanley auf dem Programm, das ganz im Nordwesten der Insel liegt. Der hübsche kleine Ort mit vielen herausgeputzten alten Häusern diente als Kulisse in dem Hollywoodstreifen The Light Between Oceans. Er liegt malerisch auf einer Landzunge am Fuße eines Hügels, den die Einheimischen The Nut nennen. Extra für Motorradreisende in schweren Stiefeln – nehme ich zumindest an – gibt es einen Sessellift. Die herrlichen Ausblicke über die Stadt und die Küste waren ein schöner Abschluss für meinen Tasmanien-Trip. Anschließend ging es zurück auf die unbequemen Liegesitze der Fähre in Richtung Festland.

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Veni, vidi Vic