Opus magnum on the rocks

Nach Sydney rein- und wieder rauszufahren, dauerte jeweils sicher eine Stunde. Gemessen daran, wie groß diese Stadt ist, habe ich in den drei Tagen nur einen kleinen Teil davon gesehen. Nicht weil ich faul war, sondern weil viele der Sehenswürdigkeiten nah beieinander liegen. Das meiste davon am Hafen. Also ging ich als Erstes zum Circular Quay, der zentralen Anlegestelle für alle Schiffe und Fähren.

Wenn man von Westen kommt, läuft man allerdings direkt auf das Überseeterminal zu. So bog ich voller freudiger Erwartung, nun gleich das berühmte Opernhaus zu sehen, um die letzte Ecke – und stand plötzlich vor einer Wand. Dort lag gerade eines der größten Kreuzfahrtschiffe der Welt: fast 350 Meter lang, 18 Decks hoch und sicher mit mehr Tiefgang als dieser Text. Statt dänischem Design und australischem Wahrzeichen sah ich also deutsche Schiffsbaukunst aus Papenburg, Emsland. Nicht gerade schön, aber wenn man davorsteht, bleibt einem die Spucke weg.   

Ganz anders als den Passagieren. Denen läuft eher das Wasser im Munde zusammen, wenn sie in den alten Baracken am Kai speisen, die heute feine Restaurants beherbergen. Dahinter erstreckt sich The Rocks, das ehemals wilde Zentrum Sydneys, als es noch eine junge Stadt war. Zweihundert Jahre haben viel verändert, aber hinter den Sonnenschirmen der Cafés erkennt den alten Charme noch gut.

Über The Rocks erreicht man auch den Zugang zur Harbour Bridge. Für Kletterfreudige gibt es sogar eine Tour über den oberen Bogen der Brücke. Zur Sicherheit wird man angeseilt, falls einem von der Höhe oder den Preisen für die Buchung schwindelig wird. Normalos laufen einfach über die Fußgängerspur und genießen kostenlos den fantastischen Blick auf das Opernhaus und die Stadt. Auf der Brücke erhält man außerdem einen Eindruck davon, wie riesig dieses Bauwerk ist und welche Unmengen an Stahl da verbaut wurden. Interessanterweise aber weniger als im Opernhaus, wie ich später erfahren sollte.

In der Bucht ist immer eine Menge los. Vor allem die Fähren schippern kreuz und quer unter der Brücke durch. Eine Strecke führt nach Manly, wo es mir viel besser gefallen hat als am berühmteren Bondi Beach. Manly hat eine schöne Ortschaft und attraktive Wanderwege, die zu weiteren kleinen Buchten führen. Und am Hauptstrand kann man ebenso den Surfern und Volleyballern zusehen wie in Bondi. Zum Beispiel Stefan, einem Deutschen, der als Mitarbeiter einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft nach Australien kam. Er lebte bereits seit einem Jahr in Manly und wollte dort auch bleiben. Warum? Hier könne man neun Monate im Jahr Volleyball am Strand spielen. Der Punkt geht an ihn.

Eine Fährfahrt lohnt sich schon deshalb, weil man vom Wasser einen unverstellten Blick auf das Opernhaus hat, womit wir endlich zum Elefanten im Zeilenzwischenraum kommen.

Vermutlich ist kein anderes Gebäude in Sydney auch nur annährend so oft fotografiert worden – und das völlig zu Recht. Denn das Opernhaus kann Tausend verschiedene Gestalten annehmen, je nachdem, aus welchem Winkel man es betrachtet. Deshalb muss man es umrunden, erklimmen, unterlaufen und betreten. Man muss es sich von oben, vom Wasser, aus der Ferne und aus unmittelbarer Nähe ansehen. Eine Führung sollte man unbedingt auch machen, sonst entgehen einem wichtige Einblicke. Erst nach all dem kann man mitreden und fachmännisch urteilen: Boah, ist das geil!

Einer der fernen Punkte, von denen aus man das Opernhaus sehr gut sehen kann, ist Mrs Macquarie’s Chair. Der Aussichtspunkt liegt am Ende der Royal Botanic Gardens, durch die man bei dieser Gelegenheit einen herrlichen Spaziergang machen kann. Auf dem Rückweg biegt man auf halber Strecke links ab und erreicht nach kurzer Zeit ein – wenn nicht sogar das – Highlight meines Sydney-Aufenthalts: die Art Gallery of New South Wales.

Bisher hatte ich ein bisschen Pech mit meinem Timing gehabt, siehe Wale und Schildkröten. Doch in diesem Fall war der Zeitpunkt meines Besuchs genau richtig, denn just an diesem Tag begann in der Art Gallery die Kandinsky-Ausstellung. Und das war gleich doppeltes Glück. Denn zum einen haben die Kuratoren das Werk und das Leben des Expressionisten toll präsentiert und sehr leicht zugänglich gemacht, u. a. mit einem exzellenten Audio-Guide. Außerdem steuerten alle Besucher sofort auf den Trakt mit dem riesigen Kandinsky-Banner zu – und verstellten mir so nicht den Blick auf die großartigen Arbeiten von Hoda Afshar.

Man muss sicher kein Fotograf sein, um von den feinfühligen Bildern der iranischen Foto- und Videokünstlerin hingerissen zu sein. Besonders die intime, aber nie entblößende Serie über eine Gruppe homosexueller iranischer Männer in einem Badehaus hat mich geflasht. Deren Sehnsucht nach Wahrnehmung und Berührung wird gerade deshalb so deutlich, weil Afshar sie so subtil zeigt. Gleichzeitig spürt man eine Spannung, weil diese Männer etwas zurückhalten müssen.

Die Ausstellung trägt denselben Namen wie eine Arbeit Afshars, in der es um den Mahsa-Amini-Protest in Iran geht: A Curve is a Broken Line. Glücklicherweise gibt die Art Gallery dazu einen Katalog heraus, den man auch über Jeff Bezos‘ Gemischtwarenladen beziehen kann. LINK

Gedanklich noch ganz bei Afshar und in Iran verließ ich die Art Gallery – und lief direkt in eine propalästinensische Demo hinein. Hier solidarisierten sich Unterstützer indigener Australier, irische IRA-Sympathisanten und Menschen, die das gegenseitige Morden im Nahen Osten einfach scheiße finden, mit Palästina. Bisher hatte ich in meinen Gesprächen mit Australiern kein übermäßiges Interesse an dem Krieg feststellen können – das Ganze schien für sie irgendwie weit weg –, aber in Sydneys Hide Park war die Stimmung aufgeheizt. Zumindest bei den meisten. 

Jeder Aufgeregtheit unverdächtig war hingegen mein Gastgeber Gregory. Er wohnte gerade deshalb nicht im Getümmel, weil er die Natur und seinen Frieden schätzt. Was für ein Glück! Besser als bei ihm kann man es als Besucher nämlich nicht treffen, besonders wenn man auch noch ein Motorrad parken muss. Von Gregorys Wohnung waren es nur ein paar Minuten zu Fuß bis zum Bahnhof und von dort drei Haltestellen bis ins Zentrum. Der Schwede lebte schon sein 40 Jahren in Australien und ist ein ebenso freundlicher wie hilfsbereiter Mensch. Gemeinsam mit seinem Hunde Apollo fütterte er jeden Morgen zwei wilde Papageienpärchen mit Honig. Es dauerte keine fünf Minuten, bis die Vögel auch zu mir kamen.

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Schildbürger und ihre Schwestern